Der Opernfreund

26 avril 2019

Thierry Pécou a créé l'Ensemble Variances en 2009 et depuis lors, il a attiré l'attention du monde entier avec des productions au-delà de toute définition. Au cours de son mandat chez Paris Oper, Gérard Mortier a qualifié ces formes de "frontières"... Dans cet espace-frontière ou plutôt transfrontalié, Thierry Pécou présente désormais son "oratorio chorégraphique".

NAHASDZAAN
Neue Oper für ein neues Publikum? Diese Uraufführung, „Mutter Erde“, zeigt wie es gelingen kann!

Wir waren schon viel zu lange nicht mehr in Rouen, dabei liegt die schöne Stadt an der Seine nur eine Stunde westlich von Paris und hat einen vergleichbaren Charme wie Tours, wo wir im Herbst auch anlässlich einer Uraufführung waren : eine mittelalterliche Provinzhauptstadt mit Fachwerkhäusern, Renaissancepalästen, die im 19. Jahrhundert einschlief und jetzt nur noch 100.000 Einwohner zählt. So wie die jungen Helden von Balzac davon träumten, von Tours nach Paris zu ziehen, verbrachte die Madame Bovary von dem in Rouen geborenen Gustave Flaubert ihre Abende mit dem Stadtplan von Paris und den Spielplänen der dortigen Theater. Die meisten ausländischen Besucher kommen heute wegen der Impressionisten, auf den Spuren Claude Monets, der vom Fenster eines damaligen Damenunterwäscheladens (heute das Tourismusbüro) seine berühmte „Serie“ der Kathedrale von Rouen gemalt hat. Einige dieser Bilder hängen heute im Musée des Beaux Arts de Rouen, wo es auch noch viel anderes zu sehen gibt, u.a. das eindrucksvollste Gemälde von Caravaggio in Frankreich. Zur Zeit läuft dort eine Ausstellung über die wenig bekannte Künstlerkolonie im idyllischen Küstenort Varengeville, wo Picasso Braque und Miro besuchte (bis zum 2. September). Dem einst blühenden Musikleben wurde 1944 ein brutales Ende gesetzt, als die Alliierten in der sinnlosen „roten Woche“ über 6000 Bomben abwarfen, anscheinend um eine gut verborgene Kommandozentrale der Wehrmacht zu treffen. Der Bunker überlebte ohne eine Schramme, aber mehr als die Hälfte der Altstadt wurde zerstört.

Als zwanzig Jahre später wieder ein neues Opernhaus eröffnet wurde, gab es kein traditionelles Opernpublikum mehr. Das neue „Théâtre des Arts“ („Theater der Künste“) machte aus der Not eine Tugend und positionierte sich mit einem weitgefächerten Angebot um wieder ein neues Stammpublikum aufzubauen. So erklärt sich, dass die Oper in Rouen oft auffiel – und heute wieder auffällt – mit Produktionen und Initiativen außerhalb des üblichen Opernrepertoires. So erfand man hier das System des „opéra participatif“, in dem das Publikum aufgefordert wird mitzumachen und zum Beispiel bei einem „Fliegenden Holländer“ aus dem Saal einige Chorpartien mitzusingen, und auch den „quizz symphonique“, in dem das Publikum gebeten wird, während eines symphonischen Konzerts mehrere musikalische Fragen mit farbigen Pappkartons zu beantworten. Sehr originell und erfolgreich! Laurence Equilbey, die erste wirklich bekannte Dirigentin in Frankreich, zog 1998 nach Rouen mit ihrem Chor „Accentus“, der inzwischen als einer der besten für die Musik des 20. Jahrhunderts gilt, und Vincent Dumestre folgte mit seinem Barockensemble „Le Poème Harmonique“, mit dem er inzwischen bereits bis nach Japan und in die USA tourt.

Thierry Pécou und sein 2009 gegründetes Ensemble Variances – für das wir nun angereist sind – fallen schon seit vielen Jahren (auch international) mit sehr eigenen Produktionen auf, für die es anscheinend keinen gängigen deutschen Begriff gibt. Gérard Mortier nannte sie während seiner Intendanz an der Pariser Oper „frontière“ und so gab es in seiner damaligen Spielzeitbroschüre drei Kategorien: Oper, Ballett und „Grenze“. In diesem Grenzbereich, oder eher grenzüberschreitenden Bereich, befindet sich nun auch das „choreographische Oratorium“ von Thierry Pécou. Pécou, 1965 in Paris geboren, ist geprägt durch seine Wurzeln auf der Martinique, und jedes seiner Werke ist eine Auseinandersetzung mit einer gefährdeten, wenn nicht sogar zerstörten, außereuropäischen Kultur. In „Chango“ (1992) ging es um afro-kubanische Rituale, in der „Symphonie du Jaguar“ (2003) um präkolumbische Religionen, in „Sangâta“ (2018) um indische Ragas und in „Méditation sur la fin d’une espèce“ (2018) um das Leben und den Gesang der Walfische. In „Nahasdzààn“ („Mutter Erde“) geht es nun um die Navajo-Indianer in Arizona (USA), die Pécou gründlich studiert hat (oft braucht er zwei Jahre Eintauchen in eine Kultur für die Komposition eines neuen Werkes). Er hat mit ihnen gelebt, an ihren Ritualen teilgenommen, ihre Gesänge aufgenommen und die Navajo-Dichterin Laura Tohe um ein Libretto gebeten, das das Weltbild und den Schöpfungsmythos der Navajo thematisiert.

Der Abend ist sehr besonders: Pécou und sein Ensemble Variances (3 Streicher, 3 Bläser und eine Schlagzeugerin, die mindestens zehn verschiedene Instrumente bespielt) stehen quasi im Dunkeln auf der Bühne. Absolute Stille und absolute Konzentration. Langsam erwachen verschiedene Töne, Geräusche und Melodien (auf französisch treffender „mélopées“), die durch vier Sänger (Sopran, Mezzo, Tenor, Bariton) aufgenommen werden – alle vier subtil mit Mikrofon verstärkt, was viele Nuancen ermöglicht wie Summen und Hauchen. Bevor leise und auch immer nur kurzweilig Navajo-Gesänge erklingen, sind wir schon in einer anderen Welt. Sie lässt sich schwer beschreiben, ist jedoch ein Genuss für Merker-Ohren. Das durch Pécou dirigierte Ensemble Variances spielt phänomenal sauber und differenziert. Über jeden Ton hat man offensichtlich so lange nachgedacht bis man ihn wirklich verinnerlicht hat. Jede Note und auch jede Pause – unglaublich wie entspannt alle bei einer Uraufführung sind – vibriert und sagt etwas aus. Wie oft beklagen wir uns über zu hastige Dirigenten, zu laut spielende Orchester und beinahe brüllende Sänger, die mit Lautstärke ein offensichtliches Manko an Intonationssicherheit und musikalischer Interpretation „überspielen“. Das Gegenteil ist hier der Fall: es scheint beinahe als ob jede Note vor unseren Augen und Ohren entsteht.

Die „Bühnenhandlung“ ist genauso konzentriert und abstrahiert: ein kleiner Adler fliegt vorbei, zwei Tänzerinnen tauchen auf, denen sich plötzlich zwei Eulen auf die Schultern setzen. Später „ringt“ eine Tänzerin sehr expressiv mit einem Geier (fantastisch das Geräusch seiner Krallen auf dem Bühnenboden!) und spaziert ein Tiertrainerin viel weniger expressiv mit einem frei laufenden Wolf über die Bühne, der gelangweilt ins Publikum starrt. Im letzten der vier „Bilder“ – jedes nur durch eine andere Beleuchtungsfarbe gekennzeichnet - laufen die Sänger durch den Saal und vermischen ihre Stimmen mit denen der Indianer, die auch diskret aus der Ferne ertönen. Was zählt ist die Musik und wir sind dem Theatermann Luc Petton, bekannt für seine langjährige Arbeit mit Vögeln, dankbar, dass er die „Handlung“ nicht überbordend illustriert (mit Video etc.) und das recht abstrakte Libretto nicht im klassischen Sinne inszeniert oder choreografiert. Denn es ist eben mehr ein Gedicht (fast schon ein schamanisches Ritual) als eine Bühnenhandlung mit identifizierbaren Personen. Der schwarze Rabe der Dichterin spricht: „We must think it. We must speak it. What we do to the earth, we do to ourselves. In healing ourselves we heal the earth.“ – Gedanken, die der Indianerhäuptling Seattle 1855 in seiner berühmten Rede vor dem damaligen Präsidenten der USA vielleicht noch etwas prägnanter ausgedrückt hat als es hier der Fall ist.

Der Höhepunkt des Abends war, als eine der beiden Eulen ganz unerwartet (?) anfing zu singen. Die herausragende Sängerin Noa Frenkel, Spezialisten für gegenwärtige Musik, kann offensichtlich auch so gut Vogelstimmen imitieren, dass die Eule ihr „antwortete“. Das war tief berührend, weil vollkommen authentisch und das zahlreiche Publikum hielt den Atem an. Als der Vorhang fiel, gab es auf Bitten des Regisseurs absolute Stille bis die Vögel wieder in ihren Käfigen waren. Das war wunderbar – und sehr nachahmenswert! -, denn so konnte dieser einzigartige Abend noch weiter in uns nachhallen. „Nahasdzààn“ („Mutter Erde“) reist nun weiter durch die Normandie, wo die Opéra de Rouen Normandie in den letzten 20 Jahren schon über 800 Vorstellungen an den verschiedensten Orten gegeben hat (auch in Krankenhäusern und Gefängnissen). Das heißt wirklich sein Publikum „erobern“ und ihm die Ohren für neue Opernformen öffnen. Wo sieht man das sonst? Komplimente für alle Beteiligten!

Waldemar Kamer

www.deropernfreund.de